I. Studenverbindungen in der deutschen Geschichte

Zu allen Zeiten haben an deutschen Universitäten Studenten Gemeinschaften gebildet, deren Ziel es war und bis heute ist, in einer für das weitere Leben entscheidenden Phase unter Gleichgesinnten Geselligkeit und Freundschaft, gegenseitige Unterstützung und Gedankenaustausch zu pflegen und die dabei entstandene persönliche Verbundenheit über die Studienzeit hinaus aufrechtzuerhalten. Studentische Verbindungen sind daher untrennbar verbunden mit der Geschichte der deutschen Universitäten. Unter dem Eindruck der Aufklärung und der französischen Revolution, der deutschen Kleinstaaterei, der napoleonischen Besetzung und schließlich der Befreiungskriege entstanden am Anfang des 19. Jahrhunderts Studentenverbindungen, deren Ziele – definiert beim Wartburgfest 1817 und beim Hambacher Fest 1832 – die Überwindung der deutschen Kleinstaaterei und die Durchsetzung einer freiheitlich-demokratischen Staatsordnung waren.

Das Scheitern dieser von Studenten und Bürgertum gemeinsam getragenen Bewegung wurde endgültig im Revolutionsjahr 1848/49 besiegelt. Nach einer Phase des Übergangs und der Gründung des deutschen Kaiserreichs wurden auch die studentischen Korporationen – die bestehenden, aber noch viel stärker die nun in großer Zahl neu gegründeten – von jener in der Gesellschaft vorherrschenden Bewegung erfasst, die von einer wachsenden Übersteigerung des Nationalgefühls, der Verherrlichuing militärischer Stärke und der Akzeptanz obrigkeitsstaatlicher Strukturen bei gleichzeitiger Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichen demokratischen Defiziten sowie durch die Missachtung nationaler und religiöser Minderheiten (Antisemitismus) geprägt waren. Daher gingen von den Korporationen, deren Mitglieder ihrem Selbstverständnis nach zur geistigen Elite des Volkes gehörten, auch keine Impulse aus, die geeignet gewesen wären, der verhängnisvollen Entwicklung entgegenzuwirken, die letztlich in den 1.Weltkrieg führte.

Auch der Zusammenbruch der Monarchie bei Kriegsende führte nicht dazu, daß alle Mitglieder der Korporationen nun den demokratischen Neuanfang und die Republik von Weimar unterstützen. So ist die Beteiligung von Korporationsstudenten an Militäraktionen – wie z.B. in Thüringen 1920 – weniger als eindeutiger Beweis für Republiktreue zu werten, sondern vielmehr als Hinweis auf die in hohem Maße vorhandene Gewaltbereitschaft gegenüber der politischen Linken, die unter anderem in der Bluttat von Mechterstädt, begangen von Angehörigen einiger Korporationen, sichtbaren Ausdruck fand. (Diese Feststellung wird auch nicht dadurch relativiert, daß die Republik speziell in den Anfangsjahren durch kommunistische Gewalt von links ebenfalls bedroht wurde.)
Auch die Bereitschaft der Marburger Korporationen, den Kapp-Putsch zu unterstützen, unterstreicht die Dominanz antidemokratischen Denkens. Da in der Kaiserzeit ebenso wie später in der Weimarer Republik bei den Studenten die Zugehörigkeit zu einer Korporation die Regel war, hatte dies zur Folge, dass in Verwaltung, Justiz und Wirtschaft das korporative Element ebenfalls dominierte und damit zugleich die Abwehrhaltung oder zumindest Gleichgültigkeit gegenüber demokratischen Erfordernissen.

Heute wissen wir, dass die weite Verbreitung antidemokratischer Einstellungen in den Führungsschichten der deutschen Gesellschaft das Scheitern der Weimarer Republik und das Aufkommen des Nationalsozialismus begünstigte, wenn nicht sogar erst ermöglichte. Die teilweise erzwungene Gleichschaltung der Korporationen nach der Machtübernahme durch die NS und schließlich ihr Verbot können daher auch nicht als Alibi für eine angebliche allgemeine Widerstandshaltung der Korporationen angegeben werden, wie dies in der Nachkriegszeit häufig propagiert worden ist. Allerdings gab es auch einige Korporierte, die eine grundsätzliche Abwehrhaltung gegenüber dem Nationalsozialismus in Wort und Tat zum Ausdruck gebracht haben.

II. Studentenverbindungen in der Gegenwart

Wir sind uns unserer Geschichte bewusst und leiten daraus zugleich die zwingende Verpflichtung ab, in der Gegenwart mit aller Entschiedenheit und kompromisslos antidemokratischem Denken und Handeln entgegenzutreten. Vor dem Hintergrund unserer Geschichte sind wir uns unserer besonderen Verantwortung in der Gegenwart bewusst. Wir erklären daher ausdrücklich: Deutschland ist für uns die Bundesrepublik Deutschland in den Grenzen, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Verträge (insbesondere durch die Ostverträge der Regierung Brandt und den 2+4-Vertrag der Regierung Kohl) mit unseren Nachbarstaaten eindeutig und endgültig definiert worden sind. Wir unterstützen eine Außenpolitik, die geprägt wird von dem ständigen Bemühen um einen freundschaftlichen, spannungsfreien und vertrauensvollen Umgang mit all unseren Nachbarstaaten. Gleichzeitig treten wir ein für eine konsequente Förderung des Europäischen Einigungsprozesses. Aus Verantwortung vor der deutschen Geschichte der letzten hundert Jahre fordern wir ferner von unseren Mitgliedern den behutsamen Umgang mit nationalen Symbolen. Dies schließt für uns z.B. das Singen der ersten beiden Strophen des Deutschlandliedes oder die Verwendung der ehemaligen Reichkriegsflagge aus. Wir stehen zur freiheitlichen, demokratischen und sozialen Grundordnung unseres Staates und respektieren unterschiedliche politische Meinungen, solange sie mit den im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland festgelegten Werten, Rechtsnormen und Bestimmungen dem Sinn und dem Wortlaut nach vereinbar sind. Dies setzt der weltanschaulichen und politischen Ausprägung der Korporationen und ihrer Mitglieder klare Grenzen. Wir fordern daher alle Mitglieder von Korporationen auf, sich aktiv gegen jede Form von Rechts- und Linksradikalismus einzusetzen. Jegliche Diskriminierung aufgrund von Nationalität, Religion, Hautfarbe, Geschlecht oder körperlicher und geistiger Beeinträchtigung und erst recht die Anwendung von Gewalt verurteilen wir aufs Schärfste.

Wir sind historisch und inhaltlich mit der Philipps-Universität Marburg verbunden, fördern eine intensive Auseinandersetzung mit den Fragen und Problemen unserer Zeit, pflegen Geselligkeit und Freundschaft, praktizieren gemeinsames Fach- und Interdisziplinärstudium, existieren durch die Prinzipien Verbindlichkeit, Eigenverantwortung und Selbständigkeit, schaffen durch die Organisationsform der freiwilligen lebenslangen Mitgliedschaft Gemeinschaften, in denen zwischenmenschliche Beziehungen auch über die Studienzeit hinaus Bestand haben (Lebensbundprinzip), und außerdem Generationen miteinander in Verbindung gebracht werden. Ziel unserer Gemeinschaften ist es, unsere Mitglieder in erster Linie zu kritischem, selbständigem und verantwortungsbewusstem Handeln anzuleiten. Diese Grundsatzerklärung ist für alle aktiven Mitglieder der unterzeichnenden Korporationen verpflichtend.

Marburg, den 29.04.1996

Die Aktivitates von:

V.K.D.St. Rhenania Marburg im CVK.D.St.V.
Palatia Marburg im CV
Clausthaler Wingolf zu Marburg
ATV! Amicitia zu Greifswald in Marburg
ATV Marburg
SBV Frankonia